Sippenhaft

Das Kon­zept der Sip­pen­haf­tung stammt aus altem deut­schem Recht und besag­te, dass die Fami­lie eines Straf­tä­ters für sei­ne Taten mit­ver­ant­wort­lich sei. Im Mit­tel­al­ter bedeu­te­te dies meist, dass die Fami­lie des Täters durch Buss­geld­zah­lung für sei­ne Taten ein­zu­ste­hen hat­te. Im Natio­nal­so­zia­lis­mus hin­ge­gen wur­de das Prin­zip grau­sam wei­ter­ent­wi­ckelt: Hier dien­te Sip­pen­haft als Mit­tel der Ver­gel­tung gegen Fami­li­en­an­ge­hö­ri­ge von Regime­geg­nern, oft in Form von Gei­sel­nah­me oder Rache­ak­tio­nen.

Die­se Pra­xis speis­te sich aus dem NS-Ide­al der «Sip­pe» als einer angeb­li­chen Bluts- und Schick­sals­ge­mein­schaft, die mit Begrif­fen wie «Sip­pen­buch», «Sip­pen­ta­fel» und «Sip­pen­amt» im natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Sprach­ge­brauch tief ver­wur­zelt war. Die­se mythi­sche Gemein­schafts­idee bil­de­te die Grund­la­ge der Sip­pen­haft, die 1934 im Her­ders Kon­ver­sa­ti­ons­le­xi­kon fol­gen­der­mas­sen erklärt wur­de: «Der natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Staat misst der Sip­pe beson­de­re Bedeu­tung bei […] und schreibt ihr eine straf­recht­li­che Ver­ant­wor­tung zu.»

Eines der frü­hes­ten doku­men­tier­ten Opfer der Sip­pen­haft waren Ver­wand­te des Sozi­al­de­mo­kra­ten Phil­ipp Schei­de­mann, die 1933 inhaf­tiert wur­den, nach­dem die­ser einen regie­rungs­kri­ti­schen Arti­kel ver­öf­fent­licht hat­te. Auch Fami­li­en der Wider­stands­kämp­fer Georg Elser und der Mit­glie­der des Atten­tats vom 20. Juli 1944 wur­den nach die­sem Prin­zip ver­haf­tet. Hein­rich Himm­ler kün­dig­te im Zusam­men­hang mit Stauf­fen­bergs Atten­tat auf Hit­ler die «Aus­lö­schung» sei­ner Fami­lie an. Beson­ders in der End­pha­se des Zwei­ten Welt­kriegs ver­schärf­te Hit­ler die Sip­pen­haft, um Deser­teu­re abzu­schre­cken und ihre Ange­hö­ri­gen für angeb­li­chen Ver­rat mit «Ver­mö­gen, Frei­heit oder Leben» zur Ver­ant­wor­tung zu zie­hen.

Nach Kriegs­en­de setz­te sich der Begriff Sip­pen­haft als Kurz­form durch und wird heu­te, oft iro­nisch, ver­wen­det, um eine unge­rech­te Mit­ver­ant­wor­tung Unbe­tei­lig­ter zu beschrei­ben.

Der Sprachaufklärer meint

Der Begriff «Sip­pen­haft» kann wei­ter­hin ver­wen­det wer­den, soll­te jedoch mit Bedacht gewählt sein. Wie bei vie­len ande­ren Wör­tern aus dem NS-Sprach­ge­brauch ist es wich­tig, sich der his­to­ri­schen Belas­tung bewusst zu sein, um einer unre­flek­tier­ten Ver­harm­lo­sung des natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ter­rors vor­zu­beu­gen. 

Der Duden rät

Der Duden nennt eini­ge (bis­wei­len über­ra­schen­de) Syn­ony­me: Ver­ant­wort­lich­keit, Feder­füh­rung, Zustän­dig­keit und in Amts­spra­che: Komp­ta­bi­li­tät

30. Oktober 2024

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