Thing

Das Wort «Thing» erleb­te eine der unge­wöhn­lichs­ten und kurz­le­bigs­ten Pha­sen im Voka­bu­lar des Natio­nal­so­zia­lis­mus und zeigt anschau­lich, wie ver­krampft das Drit­te Reich mit dem ver­meint­lich ger­ma­ni­schen Erbe umging. Ursprüng­lich bedeu­te­te es in ver­schie­de­nen ger­ma­ni­schen Spra­chen «Volks­ver­samm­lung» und erwei­ter­te sich im Deut­schen zu «Ver­samm­lung». Nach der Zeit des Mit­tel­hoch­deut­schen ver­schwand es weit­ge­hend aus dem Sprach­ge­brauch und fand nur noch in juris­ti­schen Tex­ten und Stu­di­en über skan­di­na­vi­sche Rechts­ge­schich­te Erwäh­nung.

Die Jugend­be­we­gung «Wan­der­vo­gel» beleb­te den Begriff jedoch wie­der und nutz­te ihn für ihre Mit­glie­der­ver­samm­lun­gen. Die­se Wie­der­ent­de­ckung des Wor­tes wird Karl Fischer zuge­schrie­ben, der den Wan­der­vo­gel 1901 im Rats­kel­ler des Rat­hau­ses Ste­glitz grün­de­te. Auch ande­re Grup­pie­run­gen der Jugend­be­we­gung im frü­hen 20. Jahr­hun­dert über­nah­men den Begriff «Thing».

Ein beson­ders kurio­ser Vor­schlag kam 1933 von Carl Nies­sen, einem Thea­ter­wis­sen­schaft­ler aus der katho­li­schen Jugend­be­we­gung. Er schlug vor, den Begriff «Thing» für die geplan­ten natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Frei­luft­thea­ter zu ver­wen­den. Die­se soll­ten ursprüng­lich an 400 land­schaft­lich mar­kan­ten Orten ent­ste­hen, um dort Kund­ge­bun­gen und Fest­spie­le abzu­hal­ten, bei denen das Indi­vi­du­um in der Volks­ge­mein­schaft auf­ge­hen soll­te. Letzt­lich wur­den jedoch nur 60 sol­cher «Thing­stät­ten» fer­tig­ge­stellt, dar­un­ter bekann­te Orte wie die Ber­li­ner Wald­büh­ne und das Kalk­berg­sta­di­on, in dem heu­te die Karl-May-Fest­spie­le von Bad Sege­berg statt­fin­den.

Bereits Ende 1935 ver­such­te der natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Staat, den Begriff «Thing» aus dem Sprach­ge­brauch für sei­ne Frei­licht­büh­nen zu ent­fer­nen. Im Okto­ber des­sel­ben Jah­res erging die Anwei­sung an die Pres­se, die­se Ver­an­stal­tungs­or­te bis auf Wei­te­res als «Frei­licht­büh­nen» zu bezeich­nen. Eine wei­te­re Anwei­sung im Novem­ber for­der­te, das Wort selbst aus den Reden hoch­ran­gi­ger Per­so­nen zu strei­chen. 1939 wur­de noch­mals an die­se Rege­lung erin­nert, und selbst der Aus­druck «kul­tisch» im Zusam­men­hang mit Auf­füh­run­gen auf Frei­licht­büh­nen wur­de ver­bo­ten, obwohl Pro­pa­gan­da­mi­nis­ter Joseph Goeb­bels den Begriff noch 1935 begeis­tert genutzt hat­te, als er die Hei­del­ber­ger Thing­stät­te eröff­ne­te: «Es wird ein Tag kom­men, an dem das deut­sche Volk zu die­sen stei­ner­nen Stät­ten pil­gert, um sich in kul­ti­schen Spie­len zu sei­nem neu­en, unver­gäng­li­chen Leben zu beken­nen.»

War­um die­se Umeti­ket­tie­rung statt­fand, bleibt unklar. Neben Hit­lers bekann­ter Abnei­gung gegen «Ger­ma­nen­kitsch» dürf­te auch die wach­sen­de Ableh­nung der Bevöl­ke­rung gegen­über den qua­si-reli­giö­sen Fest­spie­len eine Rol­le gespielt haben. Die Thing-Bewe­gung war ohne­hin zum Erlie­gen gekom­men, nach­dem Goeb­bels bereits 1935 auf­ge­hört hat­te, den «Reichs­bund der deut­schen Frei­licht- und Volks­schau­spie­le» zu för­dern. Ande­re For­men der Mas­sen­be­ein­flus­sung erschie­nen ihm moder­ner und wir­kungs­vol­ler.

Der Sprachaufklärer meint

Obwohl das Wort «Thing» nicht stark mit der mör­de­ri­schen Ideo­lo­gie der Natio­nal­so­zia­lis­ten ver­bun­den ist, wür­de sei­ne Nut­zung heu­te wohl eher belä­chelt wer­den – wenn über­haupt jemand auf die Idee käme, es zu ver­wen­den.

Der Duden rät

Im Duden fin­det sich kei­ner­lei Emp­feh­lung zum «Thing». Ledig­lich der Hin­weis auf die ger­ma­ni­sche Her­kunft: «Volks‑, Hee­res- und Gerichts­ver­samm­lung, auf der alle Rechts­an­ge­le­gen­hei­ten eines Stam­mes behan­delt wer­den.»

29. Oktober 2024

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